Narratives Coaching — Wurzeln, Prinzipien und Methoden
Vom Storyboard zur erzählten Story: Arbeit mit Bodenlinien im Storytelling-Workshop @anjatimmermann
Was macht eigentlich ein Narrativer Coach und wo sind die Unterschiede zu anderen Coaching-Ansätzen auf der einen und Storytelling auf der anderen Seite? Jeder zehnte Business-Berater bietet gefühlt im Moment „irgendwas mit Coaching und Storytelling” an. Aber das ist nicht dasselbe wie ein narrativer Coaching-Ansatz. Aber was ist genau der Unterschied? Ich gebe eine Einführung in das „Berufsbild”. Beginnen wir bei den Anfängen, um zu verstehen, was die Idee dahinter ist.
Das Narrative Coaching hilft Menschen dabei, ihre eigenen Geschichten zu entdecken und durch das Erzählen und (neu) Interpretieren neue Möglichkeiten in ihrem Leben zu schaffen. Mit den Worten der Australierin Aunty Barabara Wingard ist narrative Arbeit: „unsere Geschichten so zu erzählen, dass sie uns stärker machen“
Es ist ein Coaching-Konzept, das sich zuerst einmal abseits vom Business-Coaching entwickelt hat. Anders als im Business-Coaching wird nicht darauf fokussiert, Ziele genau zu definieren und in Handlungspläne umzusetzen. Bei diesem Ansatz steht die Geschichte des Klienten im Vordergrund. Der Ansatz hat sich aus der Psychotherapieforschung entwickelt und lehnt sich an intellektuell-philosophische Strömungen und die qualitative Geschichts- und Sozialforschung an. Anders als in der Wissenschaft geht es aber um die Entwicklung des Storytellers, und als in der Psychotherapie wird (eher ähnlich der Ethnologie) die Beziehung zwischen Coach und Coachee auch transparent in den Prozess mit einbezogen.
Das Narrative Coaching hat sich aus dem Konzept der Narrativen Psychotherapie von Michael White und David Epston (1990) entwickelt. Das Narrativen Konzepts in der Arbeit mit Klient:innen ist eher philosophisch geprägt. Im Zentrum stehen die Geschichten der Klient:innen, das Selbstkonzept, die eigene Identität und Sinnfragen. Also ist das Narrative Coaching eher philosophisch geprägt.
Entstehungsgeschichte des Narrativen Ansatzes: Die Narrative Psychotherapie von Michael White und David Epston
Wie so oft ist die Motivation, dieses Ansatz in die Welt zu bringen, aus Ärger entstanden, über die Psychotherapiepraxis der Zeit, und dann aus einer gedanklichen Seelenverwandtschaft zwischen zwei Wissenschaftlern. Das wird deutlich in diesem
„Die Idee einer Frage in der Psychotherapie ist verunstaltet worden.“ David Epston
Ausschnitt aus einem Interview mit David Epston (2022):
In der Situation, die wir Therapie nennen — und ich glaube, das war es, was uns zu so angenehmen Freunden gemacht hat, als wir uns das erste Mal trafen, nämlich dass wir Menschen anders kennenlernen wollten, als wir beide es erlebt hatten, er in der Erwachsenenpsychiatrie und ich in der Kinderpsychiatrie, wie Psychiatrie und Psychologie Menschen kennenlernen, wir nannten es damals Pathologisierung. Und wir fanden das entsetzlich, denn das führte in keiner Weise dazu, dass wir Menschen so begegneten, wie wir ihnen begegnen wollten.
Auf viele Arten konnten wir die schädlichen Auswirkungen davon sehen, besonders, weil die Menschen sich bis zu einem gewissen Grad selbst so umgestalteten, dass sie zu der Diagnose passten, und das prägte ihre Identität genauso stark wie alles andere, und ich glaube, Michael nannte das eine totalisierende Identität.
Also frage ich mich, inwiefern habe ich so einen Menschen noch nie zuvor getroffen? Anstatt: Inwiefern ähnelt dieser Mensch jemandem, den ich mit der Diagnose X schon getroffen habe?
Wir haben auch beide gesehen und uns Sorgen darüber gemacht, dass viele dieser Beschreibungen wie ein Schicksal oder Bestimmung waren.
Als ich das erste Mal mit Michael gearbeitet habe, haben wir Sachen gesagt wie:
Mensch, ich wünschte, ich könnte so sein wie die, oder: Mensch, dieser Mensch, was hat der für einen Charakter.
Nach einem dieser Treffen fragte er mich: Was denkst du, mache ich anders?
Und ich sagte: Oh, du machst wirklich etwas anders.
Er fragt: Was denn?
Ich sagte: Nun, du machst keine Aussagen, du stellst nur Fragen.
Und ich sagte: Ist das schwer?
Er sagte: Nein, nein, es ist nicht schwer.
Ich sagte: Wie machst du das?
Immer wenn du eine Aussage machen möchtest, formuliere sie als Frage.
Aber was das macht:
Es mildert die Asymmetrie der Beziehung, oder?
Anstatt: „Ich weiß das“, sage ich: „Habe ich recht, das zu denken?“
„Tun Sie das, und ist es das, was Sie im Sinn haben?“
Wenn man sich Fragen in der narrativen Therapie anschaut, sie sind relativ einzigartig.
Die Idee einer Frage in der Psychotherapie ist verunstaltet worden. Es ist der am wenigsten untersuchte Aspekt der Praxis, obwohl es das wichtigste Werkzeug der Praxis ist.
Ich glaube, wir zeigen uns den Menschen, denen wir begegnen, mindestens ebenso durch die Fragen, die wir stellen, wie sie uns zeigen, wer sie sind, durch ihre Antworten auf unsere Fragen.
Michael hat im Laufe der Jahre über Geschichten gesprochen, aber zwei Worte, die er regelmäßig benutzte, waren Spannung, eine Geschichte hat Spannung, und sie wird oft im Konjunktiv erzählt.
Was sein könnte, statt was gewesen ist.
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Quelle: David Epston Reflects on Early Collaborations with Michael White (August 25, 2022) https://www.youtube.com/watch?v=nJDdQE6m-SQ
Die Begründer des Narrativen Ansatzes in der Psychotherapie, Michael White und David Epston ©dulwichcentre
Prinzipien im Narrativen Ansatz
1. Der philosophische Ansatz: Das Narrative Coaching hat sich aus dem Konzept der Narrativen Psychotherapie von White und Epston (1990) herausgebildet. Im Zentrum des Narrativen Coachings stehen das Selbstkonzept, die eigene Identität und Sinnfragen. Also ist das Narrative Coaching philosophisch geprägt und befasst sich mit Fragen wie „wer bin ich?“, „wer will ich sein?“ und „was ist meine Aufgabe im Leben?“. Und daher sind hier auch Coaching fürs Leben und und Coaching für den Beruf nicht zu trennen. Das ist schon einmal der Unterschied zum „Business Coaching”.
2. Der kollaborative Charakter: Michael White und David Epston haben den narrativen Therapieansatz entwickelt, nennen sich aber selbst Co-Entwickler, da sie es so sehen, dass sie ihn mit ihren Klienten zusammen entwickelt haben. Denn bei ihrem therapeutischen Ansatz stehen die Geschichten, die Menschen über sich und ihr Leben erzählen, im Mittelpunkt. Ihren Ansatz erarbeiteten sie in den 1980er-Jahren an zwei geografisch voneinander entfernten Orten: White in Adelaide, Australien, und Epston in Auckland, Neuseeland – eine räumliche Distanz, die ihre kontinuierliche, trans-tasmanische Zusammenarbeit und den kollaborativen Charakter des Verfahrens eindrucksvoll unterstreicht
3. Fokus auf die erzählten Geschichten: Die Narrative Psychotherapie von White und Epston basiert auf der Annahme, dass Menschen ihre Identität durch die Geschichten formen, die sie über ihr Leben erzählen. White und Epston betrachten diese Geschichten als Konstrukte, die sowohl von kulturellen und sozialen Einflüssen geprägt sind als auch die individuelle Wahrnehmung und das Verhalten maßgeblich beeinflussen. Zentral ist die Idee, dass problematische Lebensmuster und Konflikte durch das Erzählen alternativer, ressourcenorientierter Geschichten verändert werden können.
4. Das Arbeiten mit dem Baukasten-System: White und Epston betonen die Bedeutung der Externalisierung, bei der Probleme als separate Einheiten betrachtet werden, um die eigene Identität nicht vollständig mit den Problemen zu verschmelzen. Dieser Ansatz eröffnet die Möglichkeit, neue Bedeutungen und Handlungsoptionen zu entwickeln, indem die Klienten ihre Geschichten neu gestalten und somit ihre Lebensrealität aktiv beeinflussen. Wie im Design und Design Thinking.
Übrigens: Die Entwicklung des Narrativen Ansatzes wurde von den australischen Aborigines beeinflusst. Aunty Barabara Wingard beschreibt die Narrative Praxis als „unsere Geschichten so zu erzählen, dass sie uns stärker machen“. Die Arbeit mit Geschichten eröffnet Möglichkeiten, „den Geschichten der Menschen zuzuhören, um sie mit ihren eigenen Heilungsmöglichkeiten in Kontakt zu bringen“.
Das macht den Ansatz für die Arbeit mit ganz unterschiedlichen kulturellen Gruppen interessant, wie ich selbst bei meinen Workshops in Kolumbien erlebt habe. Aber nun zum nächsten Schritt in der Entwicklung des Narrativen Coaching-Ansatzes.
Das Narrative Coaching nach David Drake
David Drake hat diesen Ansatz auf das Coaching übertragen und als "Mindful, Experiential, and Holistic Approach" maßgeblich geprägt. Ich habe wiederum meine eigene Interpretation des Ansatzes geschaffen, übe also nicht “Narratives Coaching nach David Drake” aus, aber dazu später, zuerst ist es wichtig, seinen Ansatz nachzuvollziehen, denn er hat eine wichtige Rolle in der Übertragung auf Coachinganlässe gespielt und sich viele Gedanken über seine Erfahrungen mit Generationen von Studenten gemacht, die sich in seinem Buch finden.
David Drake überträgt in seinem Buch „Narrative Coaching" (2009) die Narrative Psychotherapie auf das Coaching. Er empfiehlt in seinem Ansatz, die Selbsterzählungen des Coachees mithilfe von narrativen (also das freie Erzählen anregenden) Fragen zu fördern und dann gemeinsam die Geschichten in ihre Fragmente zu zerlegen. Dabei wird darauf geachtet, welche Emotionen und Assoziationen an die einzelnen Episoden geknüpft sind.
Neben den Geschichten, die die oder der Coachee von sich erzählt, gibt es die Geschichten, die sie oder er nicht erzählt. Denn auch sie (oder gerade sie) wirken auf den emotionalen Zustand, die Bewertung von Ereignissen und das Verhalten. Wenn man zum Beispiel niedergeschlagen wirkt, aber beim Erzählen von einem Ereignis nicht erwähnt, dass er es als Misserfolg ansieht, dann ist es Aufgabe des Coaches das anzusprechen.
David Drake geht davon aus, dass die argumentative Diskussion zwischen Coach und Klient über die Erzählungen einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung und Entwicklung der eigenen Identität hat. Durch den Austausch wird die eigene Erzählung angereichert, zum Beispiel um verschiedene Perspektiven. Außerdem wird der Erzählerin oder dem Erzähler die Möglichkeit bewusster, die eigene Geschichte anders zu erzählen, wodurch sich wiederum neue Erkenntnisse darüber ergeben.
So führt in unserem Beispiel die Thematisierung des Misserfolges in Kombination mit den inneren Assoziationen und den äußeren Umständen der Situation zu der Einsicht, dass der „Misserfolg" nicht nur auf die eigene Person, sondern auch auf andere Einflüsse zurückzuführen ist. Die Reflexion kann dazu führen, dass die Klienten ihre Geschichte als wichtige Lebenserfahrung sehen, aber nicht mehr als „gut" oder „schlecht" und darin einen tieferen Sinn sehen.
Kerngedanken im Narrativen Coaching
Im Einklang mit der Narrativen Psychotherapie geht das Narrative Coaching davon aus, dass sich die eigene Identität durch die Geschichten bildet, die der Mensch über seinen eigenen Lebenslauf erzählt. Das Ziel des Coachings ist es, diese Geschichten aufzudecken, so dass es möglich wird, neue Verbindungen zwischen den Geschichten der Klienten, ihrem Identitätskonzept und ihren Verhaltensweisen herzustellen, um neue Optionen zu ermöglichen und zu entwickeln.
Kerngedanken, die auch mich bei meiner Arbeit leiten, sind
Erzählen ist unsere natürliche menschliche Sprache und daher eine sehr leicht zugängliche Form des Coachings, die der Natur des Menschen entspricht und daher wenig anstrengend ist und hochgradig wirksam.
Erzählen ist universell und kommt in allen Kulturen vor: Die Form das Erzählens, im Zweiergespräch oder in der Gruppe, kommt in allen Kulturen vor, das unterstützt die Sinnhaftigkeit und auch die Eignung für interkulturelles wie auch interdisziplinäres Coaching und generell die Arbeit mit diversen sozialen Konstellationen.
Erzählen ist Identitätsbildung, Community-Building und Führung: Storytelling ist eine Art der Kommunikation, die bewusst seit Anbeginn der Menschheit für die Selbst-Vergewisserung, Wissensweitergabe, Gemeinschaftsbildung und Leadership angewendet wird. Das impliziert, dass das Erzählen nicht nur ein gutes Coaching- und Trainingsformat ist, sondern es auch Sinn macht, Klient:innen Narrative Methoden zu lehren, damit sie sie in ihren Kontexten anwenden können.
Kernmethoden des Narrativen Coachings
Wie arbeitet ein Narrativer Coach und welche Methoden könnten auch in deine Arbeit, wenn du Coach, Trainer:in, Führungskraft oder Berater:in bist, passen? Einige oft eingesetzte Methoden:
Narrative Gespräche oder halbstrukturierte Interviews zum Erkennen der relevanten Themen
Timelines, Ereignis-/Emotionskurven zur Dokumentation, Orientierung und Analyse
Analogien und Metaphern zum Sortieren und Kategorisieren von kontrollierenden Ideen
Story-Analyse, die Kernelemente herauskristallisiert und kartiert, für die weitere Arbeit
Story-Design: Mit den Kernelementen Story-Varianten entwickeln und experimentieren
Story-Telling: Die eigene Story erzählen lernen, testen und mit ihr arbeiten
Welche Methoden ich ganz konkret verwende, darüber berichte ich in einem der nächsten Blogposts. Immer aber geht es beim Erzählen neuer, konstruierter Geschichten nicht ohne das Verinnerlichen und Einüben der Story, um die neue Praxis auch im Nervensystem zu verankern. Das machen wir zum Beispiel mit dem Laufen über Bodenlinien mit farbigen Tapes und Story-Landschaften (wie auf dem Foto oben in einem Training mit dem Presseteam der Landeshauptstadt Kiel).
Quellen
White, M. & Epston, D. (1990) Narrative Means to Therapeutic Ends. W. W. Norton, New York.
Narrative Therapy: https://dulwichcentre.com.au/
Drake, D.B. (2009). Narrative coaching. In E. Cox,
T. Bachkirova & D. Clutterbuck (Eds.), The Sage handbook of coaching (pp.120–131). London: Sage.
Marc Schreiber, Narrative Ansätze in Beratung und Coaching: Das Modell der Persönlichkeits- und Identitätskonstruktion (MPI) in der Praxis, Springer 2022.