Kapax – Begegnung mit einer Legende am Amazonas
Abenddämmerung am Lago de Tarapoto, @anjatimmermann
Im Herzen des kolumbianischen Amazonas traf ich eine lebende Legende: Kapax, der als „Hombre de la selva — Urwaldmann“ oder auch „Tarzan Kolumbiens“ vielen Kolumbianern aus Comicheften und Abenteuerfilmen bekannt ist. Mit meiner deutsch-kolumbianischen Familie wollten wir in Leticia eigentlich dem Großstadtrummel entkommen und mit einem Boot rausfahren zu einem See am Amazonas. Ein paar Tage Urlaub in der Natur machen und wieder eine neue Facette des Landes, das die Heimat meines Mannes ist, kennenlernen. Wir hatten nicht erwartet, jemanden mit deutschen Wurzeln zu treffen, als wir „Don Kapax“ spontan im Hafen begegnen. Was für ein Glück. Kaum jemand kennt den Fluss, die Tiere und den Urwald Amazoniens so gut wie Alberto Rojas Lesmes, bekannt als Kapax. Wir lernen aber auch die Sorgen kennen, die die Menschen hier umtreiben: Die so paradiesisch anmutende Natur am Amazonas ist schwer bedroht. Darauf hat Alberto früher mit waghalsigen Schwimmaktionen aufmerksam gemacht. Heute, mit 79, setzt er sich nicht nur täglich für den Naturschutz ein, sondern ist offizieller Botschafter für Völkerverständigung im Dreiländereck Kolumbien-Brasilien-Peru – und inspiriert damit die nächste Generation. Er gibt nicht auf: Letztes Jahr hat er sein Abitur gemacht. Ein Gespräch über Mut, Wandel und Hoffnung im Herzen Amazoniens.
Nach Amazonien
Mal ein paar Tage in der Natur verbringen, fernab von Verkehrsstau, Baumärkten, Einkaufszentren, Ikea — einfach dem täglichen Großstadttrubel. Damit meine ich nicht Hamburg, sondern die zweite Heimatstadt unserer deutsch-kolumbianischen Familie: Die Ach-Millionen-Metropole Bogotá auf 2.600 Metern hoch oben in den Anden. Hier haben wir den (deutschen) Sommer bei der Familie verbracht und den Umzug meiner Schwiegermutter organisiert.
Wir nehmen uns eine Auszeit und wollen tief in den Urwald. Zwei Stunden Flug entführen uns in den südlichsten Zipfel des Landes: nach Leticia, Amazonashafen im Dreiländereck mit Brasilien und Peru. Eintauchen in fremde Welten und unbekannte Kulturen. Pirañas angeln und auf dem offenen Feuer grillen. Das ist der Plan. Unser Sohn hat es sich zum Abi gewünscht. Aus weiser Voraussicht habe ich mein Notizbuch in der Tasche. „Es gibt überall etwas zu entdecken“ — das ist ein Spruch meiner Hamburger Großmutter, die Geschichten geschrieben hat. Sie sollte recht behalten.
Am Urwaldflughafen
Am kleinen Flughafen zieht mich mein Mann zur Seite und führt uns zu einer Statue mit einem überlebensgroßen Mann, der von einer Anakonda umwunden wird, rechts und links ein Jaguar. Es ist Kapax, der „Urwaldtarzan“. Jeder kennt die Legende in Kolumbien aus Comicheften und Abenteuerfilmen: Eine Legende.
Leticia — betriebsamer Urwaldhafen im Dreiländereck
Am Dreiländereck Kolumbien-Peru-Brasilien
An friedliche Idylle unter Palmen ist in Leticia erstmal nicht zu denken. Das Urwaldstädtchen brummt von an- und abfahrenden Booten, Motorrädern und den Tuc-Tucs, den Motoradtaxis. Mittags kommen viele Hungrige aus allen Ecken des Städtchens zu den Straßengrills in der Calle del Humo, der Rauchstraße. Da wollen wir auch noch hin, aber erstmal den Fisch angeln.
Wir checken im Hotel Rencife ein. Es wird betrieben von Martha, der Schwester eines Freundes aus unserer Zeit in New York City. Ihr Vater hatte die erste Apotheke im Ort. Eine Story für später. Auch das Etnografische Museum kommt auf meine Liste.
Auch in den Cafés, Bäckereien und Restaurants herrscht Betriebsamkeit. Wir frühstücken Fischsuppe und hören die nächsten Stories: die Locals erzählen uns von einem sich anbahnenden militärischen Konflikt um Gebietsrivalitäten um die dem Hafen vorgelagerte Insel Santa Rosa — nichts Ungewöhnliches im Dreiländereck Kolumbien-Brasilien-Peru. Zum Glück, einen Monat später als ich diesen Artikel schreibe, hat sich der Konflikt schon wieder beruhigt.
Die Kapax-Statuen — wer ist diese Legende vom Amazonas?
Im Park sehen wir wieder eine Kapax-Statue, im Hafen eine dritte. Mein Mann erzählt mir mehr vom Helden seiner Kindheit, ich recherchiere, wir fragen die Einheimischen und erfahren:
Kapax, eigentlich der Name eines Amazonas-Fisches (Capax), ist der Beiname eines deutschstämmigen Mannes, der mit bürgerlichem Namen Alberto Rojas Lesmes heißt.
Er ist als Sohn einer indigenen Einheimischen und eines Deutschen in Puerto Leguízamo am Fluss Putomayo aufgewachsen.
Als junger Erwachsener, in den Siebzigern, wurde er durch Schwimmaktionen zu einem Umwelt-Aktivisten und einer Ikone des Urwaldschutzes .
1976 sorgte er erstmals international für Aufsehen, als er den Río Magdalena der Länge nach durchschwamm – über 1.100 Kilometer in fast fünf Wochen.
Weiter ging es mit waghalsigen, spektakulären Expeditionen in und auf dem Amazonas. Und immer wieder Fotoshootings mit Riesenschlangen.
Jahrzehntelang, so erfährt man in den überwiegend spanischsprachigen Quellen, kämpfte Kapax unermüdlich mit kreativen und öffentlichkeitswirksamen Aktionen für den Schutz des Amazonas.
Umweltschützer politischer Botschafter
Seinen Status als Legende nutzte Alberto, um Politik und Gesellschaft für Umweltprobleme zu sensibilisieren und sich für die Verständigung zwischen den Amazonasvölkern im Dreiländereck einzusetzen. Die öffentlichen Behörden haben ihm den Status eines Botschafters der Region Amazonien verliehen und die Statuen errichten lassen.
Mit dem Einbruch der Dämmerung zieht es Bewohner und Touristen an den Parque Santander, wo in einem allabendlichen Naturspektakel Schwärme von hunderten von Loros, kleinen grünen Papageien, unter lautstarkem Gekrächze ihre Kreise ziehen.
Begegnung mit der lebenden Legende im Hafen
Am nächsten Morgen wollen wir mit dem Boot noch weiter in den Urwald reisen, in die autofreie Kommune Puerto Nariño, zwei Stunden von Leticia. Als unser Guide jemanden grüßt: „Buenos días Don Kapax.“ Mein Mann bleibt wie angewurzelt stehen und erkennt den Mann sofort: das ist er. Die grüne Schirmmütze, tief ins Gesicht gezogen ist ihm trotzdem anzusehen, dass er sich freut, als mein Mann ihm seine Frau aus Deutschland vorstellt. Ganz Profi verpasst er nicht die Gelegenheit, sein Banner auszurollen, auf dem seine Parole steht: Salvar al planeta, salvar la Amazonía, salvar la vida (den Planeten, den Amazonas, das Leben retten).
Wir reden über seine deutschen Wurzeln. Er kennt seinen Vater nicht, aber fühlt sich dessen Heimatland trotzdem verbunden und freut sich immer, wenn deutsche Touristen kommen. Trotz seines Alters von 79 Jahren strahlt er eine fast schon unheimliche Energie aus. Er spricht so leidenschaftlich wie ein Startup-Gründer über seine Mission, den Amazonas zu retten. Und voller Stolz über seine neue Rolle als offizieller Botschafter der Völkerverständigung der Amazonas-Region, die mit so vielen Herausforderungen zu kämpfen hat: ethnische Diversität, politische Spannungen, Armut, Naturzerstörung.
Kindheit am Amazonas
Alberto ist mit der Liebe zum Urwald, zum Fluss und zu den Tieren aufgewachsen und hat in seiner Jugend erlebt, wie die Natur immer weiter zerstört wurde. Unter anderem durch Minen, giftige Abwässer und Ausbeutung des Urwalds. Schiffe kamen den Fluss hoch und brachten Benzin, Beton, Baumaterialien und Ingenieure. Es wurde zu seinem Lebensprojekt, Aufmerksamkeit für den Schutz der Flüsse und Wälder zu wecken und den Menschen in Amazonien Mut zu machen, für ihre Heimat einzustehen.
„Der Amazonas weint — er stirbt jeden Tag.”
Ich merke, dass er fühlt was er sagt. „Erst stirbt die Natur, dann die Menschen” zitiert er eine indigene Weissagung. Er erinnert sich an die Zeiten, als der Fluss noch ganz anders verlief, als es Schildköten gab (er zählt noch ein paar mehr Tiere in der Sprache der heimischen Stämme auf, deren Namen ich nicht kenne) und die Flussdelfine mit den wenigen Touristen spielten.
Mir wird klar, dass Kapax viel mehr als nur eine lokale Kuriosität für Touristen ist – er ist ein Mensch, der versucht, mit seinem ganzen Leben ein Zeichen zu setzen. Er ist eine Bewegung. Eine lebende Ikone. Ein Teil der Kultur.
Jeder kann etwas beitragen
Alberto Rojas Lesmes hatte eine Vision und hat einfach angefangen, auf seine Art, im Rahmen seiner Möglichkeiten Dinge zu bewegen. Für das Schwimmen schwinden ihm die Kräfte, die Zeiten der Rekorde sind vorbei, sagt der 79jährige. Aber sein Engagement ist rekordverdächtig. Letztes Jahr hat er sein Abitur nachgeholt.
„Herzliche Grüße nach Deutschland“, sagt er zum Abschied, und seine blauen Augen funkeln unter dem grünen Mützenschirm hervor. Sie begleiten mich noch lange, als wir in unser Boot steigen.
Der Amazonas hat mit Kapax einen Freund fürs Leben — aber er braucht noch viel mehr Freunde
„Mehr als Kolumbianer, Brasilianer und Peruaner sind wir Amazonier.“
Sagt unser Guide Alexis, als wir mit dem Boot unterwegs auf dem Fluss sind, Piranhas angeln. So muss die Geschichte erzählt werden. Diese Idee kann möglicherweise die Rettung für die Region sein.
In den folgenden Tagen sollen wir noch viel von den Bewohnern Amazoniens über ihre Geschichte und die Natur lernen. Auf der Fahrt mit dem Boot zwei Stunden Flussaufwärts in das autofreie Städtchen Puerto Nariño, und dann nochmal weiter in den Urwald, in die indigene Kommune Santa Marta im Naturreservat am Lago de Tarapoto. Wie eindrücklich war diese Reise, der Urwald (vor allem bei Nacht), die Tiere (einige hat man nur gehört, und von einigen, wie den Jaguaren und Anakondas, haben wir nur die Geschichten gehört) und die Menschen, die wir getroffen haben.
Jeder kann Kapax treffen und dem Urwald helfen
Das Treffen mit Kapax erinnert mich daran, dass ein einzelner Mensch aus seiner Region heraus so viel bewirken kann. Für die Menschen am Amazonas ist Kapax heute das Symbol dafür, wie wichtig es ist, dass jemand neugierig zuhört, nachfragt, und bereit ist, die eigene Komfortzone zu verlassen. Und das sie selbst auch Botschafter sein können.
Du kannst ihn treffen, am Hafen und in der Stadt, immer zum Gespräch bereit. Er inspiriert die jungen Amazonasbewohner, insbesondere die indigenen Tourguides, ihre Geschichte selbstbewusst weiterzuerzählen. Und das tun sie. Und manchmal kann Kommunikation für die Herzensangelegenheit so einfach sein wie sich mit einem Schild an die Hafenpromenade zu stellen und Gesprächsgelegenheiten anzubieten – vor allem, wenn man ein lebendes Beispiel ist.
Quellen und weiterlesen
Fotos: @privat, Wikipedia und el correo.
Kapax auf Wikipedia: https://es.wikipedia.org/wiki/Alberto_Rojas_Lesmes
Artikel auf Spanisch: https://www.infobae.com/colombia/2024/05/15/esta-es-la-historia-del-tarzan-colombiano-la-leyenda-viva-del-ecologismo-en-el-amazonas/
Reportage auf Youtube (ESP): https://www.youtube.com/watch?v=bC71GTQUPQU

