Wissenschaftlichkeit: Ein Universelles Arbeitsprinzip nicht nur für Professoren
Die Idee der Wissenschaftlichkeit ist mehr als Forschung im Elfenbeinturm: ein Set aus Prinzipien und Arbeitswerkzeugen, mit denen du besser schreibst, klarer argumentierst — und wirkungsvoller handelst.
Der Begriff „Wissenschaftlichkeit“ ist nicht mit „Wissenschaft“ zu verwechseln. Wissenschaft wird von Universitäten, Forschungsinstituten und Angestellten mit akademische Titeln betrieben. Dabei stehen viele Expert:innen außerhalb der institutionalisierten Wissenschaft genauso vor komplexen Problemen, entwickeln Prozesse, schreiben Konzepte, Gutachten oder Strategiepapiere – und fragen sich, wie man die Wissensarbeit effektiver, sinnvoller und wirkungsvoller gestalten kann. Und auch, wie fundiert ihre Wissensprodukte eigentlich sind.
Warum schauen wir uns nicht bei der Wissenschaft das ab, was uns weiterhilft, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und Probleme zu lösen? Denn Wissenschaftlichkeit ist vor allem eine Denk- und Haltungspraxis, von der auch Experten in Unternehmen, ebenso wie Autor:innen, Speaker:innen, Journalist:innen, Führungskräfte, Coaches und Berater:innen profitieren können. Die wissenschaftlichen Prinzipien und Arbeitsmethoden stehen uns allen offen, wir alle kennen sie sogar. Und was wir nicht kennen, können wir nachlesen. Denn das ist bereits eines der wissenschaftlichen Prinzipien: die Verpflichtung zur Publikation.
Wenn Wissenschaftlichkeit fehlt, wird es diffus
Umgekehrt gefragt: Was ist denn „unwissenschaftlich“? Du kennst das vielleicht aus deinem Arbeitsalltag, von Konferenzen und aus den Medien:
Argumente werden selbstbewusst vorgetragen, bleiben aber vage;
man bezieht sich auf „Studien“, ohne Konkretes wie Autoren, Titel oder Institution zu nennen.
Sinnsprüche und Behauptungen werden zitiert, die man irgendwo mal gelesen hat, ohne sie einzuordnen.
Persönliche Überzeugung werden mit Thesen verwechselt, welche eine belastbare Begründung brauchen.
Die Sprache wird kompliziert, unkonkret, unpersönlich, unklar.
Wir kennen alle diese Präsentationen, bei denen sich der Experte oder die Expertin hinter Fachjargon oder einfach „Expertensprech“ versteckt — und leiden sie oft einfach durch, weil wir nicht genau wissen, welche Kritik angemessen wäre.
Ich nenne diesen diffusen Zustand den „Nebel des Alles und Nichts“.
Vielleicht kennst du das von dir auch:
Du möchtest seriös und fundiert argumentieren, hast aber keine Lust auf akademischen Jargon.
Du nutzt wissenschaftliche Begriffe, ohne genau zu erklären, was du darunter verstehst.
Du hast das Gefühl, dass deine Texte Meinung und Analyse nicht sauber trennen.
Du möchtest etwas erwähnen, was du gelesen hast, weißt aber nicht, wie.
Genau hier hilft ein moderner Begriff von Wissenschaftlichkeit – nicht als elitäres Label, sondern als Set von Werten, Prinzipien und Methoden, die du auf deine eigene Wissensarbeit übertragen kannst.
Was ist eigentlich Wissenschaftlichkeit?
Historisch entstand der Begriff „Wissenschaftlichkeit“ mit der modernen Naturwissenschaft und der Aufklärung: Wissen sollte sich aus Beobachtung, Argumentation und offener Kritik entwickeln – und nicht aus Autorität oder Tradition allein.
Heute gibt es gute Gründe, Wissenschaftlichkeit nicht nur als akademische Disziplin zu sehen, sondern als gesellschaftliche Ressource: Je komplexer unsere Welt wird, desto wichtiger werden nachvollziehbare Argumente, transparente Quellen und die Bereitschaft, die eigene Perspektive zu reflektieren.
Philosophen wie Karl Popper haben betont, dass Forschung immer interessengeleitet ist – entscheidend ist, dass wir diese Interessen transparent machen und unsere Hypothesen der Kritik aussetzen.
Diskussionen um „Szientismus“, etwa bei Massimo Pigliucci, zeigen zugleich die Grenzen: Wissenschaftlichkeit sollte nicht zur Ideologie werden, sondern ein Werkzeug bleiben, mit dem wir die Welt besser verstehen.
Wissenschaftlichkeit ist eine Praxis, die weit über Forschung hinausgeht – wer sie in Denken, Schreiben und Handeln integriert, schafft Klarheit, Vertrauen und bessere Entscheidungen.
So kannst du Wissenschaftlichkeit in deine Texte und Konzepte bringen
Wissenschaftlichkeit im Alltag bedeutet nicht, Fußnoten im APA-Stil zu meistern. Es heißt vor allem: sauber beobachten, klar argumentieren, transparent begründen und offen für Korrektur sein. Das lässt sich trainieren – auch in Blogartikeln, Konzeptpapieren oder Präsentationen.
Grundsätzlich:
Behandle deine Expertise wie ein Forschungsfeld: Stelle Fragen, statt nur Antworten zu sammeln.
Trenne konsequent zwischen Beobachtung, Interpretation und Meinung – auch in kurzen Texten.
Mach deine Quellen sichtbar, statt dich nur auf diffuse „Studien zeigen“ zu berufen.
Texte mit wissenschaftlichen Prinzipien in fünf Schritten:
Schritt 1 — Fragestellung klären
Formuliere vor jedem Text eine Kernfrage: „Welche Behauptung möchte ich am Ende vertreten – und für wen?“
Schreib sie sichtbar an den Anfang deines Dokuments. Alles, was nicht hilft, diese Frage zu beantworten, ist Bonus oder kommt in einen anderen Text.
Schritt 2 – Beobachtung vs. Interpretation trennen
Liste zuerst Fakten und Beobachtungen: Was ist tatsächlich passiert? Was sagen Daten, Zitate, Studien?
Markiere dann, was deine Interpretation und deine Meinung ist. In Texten kannst du das transparent machen, z.B. mit Formulierungen wie: „Meine Beobachtung ist …“, „Aus meiner Sicht deutet vieles darauf hin, dass …“.
Schritt 3 – Gütekriterien als Mini-Checkliste nutzen
Nutze die klassischen Gütekriterien in einer alltagstauglichen Version:
Objektivität: Könnte eine andere Person mit denselben Informationen zu einer ähnlichen Einschätzung kommen?
Reliabilität: Würdest du auch nächste Woche noch genauso argumentieren – oder hängt dein Urteil von der Tagesform ab?
Validität: Passt dein Beispiel wirklich zu der Aussage, die du damit belegen willst?
Schritt 4 – Quellen und Kontexte sichtbar machen
Nenne bewusst, aus welchen Kontexten deine Ideen stammen: Interviews, Fachliteratur, eigene Forschung, Kundenerfahrung.
Du kannst Quellen auch erzählerisch einbauen: „In einem Gespräch mit dem Neurokognitions-Wissenschaftler Franz Hütter wurde mir wieder klar, wie wichtig …“. Verlinke dann zum Interview oder Blogpost.
Schritt 5 – Stringent argumentieren
Bau deine Argumentation wie eine kleine Kette auf:
Ausgangspunkt: „Viele verbinden Wissenschaftlichkeit nur mit Uni und Labor.“
Begründung: „Historisch kommt der Begriff zwar aus der akademischen Forschung, aber seine Prinzipien – Klarheit, Überprüfbarkeit, Reflexion – lassen sich auf jede Form von Wissensarbeit anwenden.“
Schlussfolgerung: „Wenn wir diese Prinzipien auch in Texte, Konzepte und Entscheidungen außerhalb der Wissenschaft holen, werden unsere Argumente nachvollziehbarer – und unsere Expertise sichtbarer.“
So eine dreistufige Kette (Ausgangspunkt → Begründung → Schlussfolgerung) kannst du für jede zentrale Aussage im Artikel nutzen.
Das Ergebnis: Klarere, nachvollziehbarere Texte
Wenn du die Prinzipien der Wissenschaftlichkeit auf deine Texte und Konzepte anwendest, bekommst du mehr als „korrekte“ Fußnoten – du gewinnst Klarheit im Kopf und Vertrauen bei deinen Adressat:innen.
Du trennst sauber zwischen Beobachtung, Interpretation und Meinung – und wirkst dadurch deutlich klarer und glaubwürdiger.
Du kannst Entscheidungen und Empfehlungen besser begründen, weil du deine Argumentationskette explizit durchgehst.
Deine Texte werden strukturierter: Kernfrage, Belege, Schlussfolgerung – statt loses Sammelsurium aus Gedanken und Zitaten.
Du gewinnst Sicherheit, wenn du dich öffentlich äußerst, weil du weißt, woher deine Aussagen kommen und wie belastbar sie sind.
Du trainierst eine Haltung der Neugier und Korrekturbereitschaft – und kannst so auch in komplexen Debatten gelassener bleiben.
Voilá: Mit der Wissenschaftlichkeits-„Brille“ ändert sich für dich ganz konkret etwas in deiner täglichen Wissensarbeit und in deinen Texten.
Was, wenn wir alle etwas wissenschaftlicher denken würden?
Wissenschaftlich hat auch eine gesellschaftliche Dimension. Eine ursprüngliche Absicht war die „Aufhellung“ oder „Aufklärung“, in Englisch “Enlightenment”. Diese Denkweise kann heilsam sein. Die Menschen neigen dazu, Angst vor Komplexität und Geschehnissen zu haben, die sie nicht verstehen. Diese Angst, vor allem, wenn sie unreflektiert bleibt, kann zu Verhaltensweisen führen, die unserer Gemeinschaft sehr schaden können.
Neugierig sein, hinterfragen, sich annähern, Licht in die Sache bringen und auch sich zusammentun und Probleme aus verschiedenen Perspektiven ansehen und gemeinsam lösen — alles das sind wissenschaftliche Tugenden, die, wenn wir sie alle mehr bewusst praktizieren, unserer Gesellschaft zugute kommen, und sogar heilsam sein können.
Mein Fazit:
Ich sehe Wissenschaftlichkeit als einen umfassenden Ansatz, der wissenschaftliches Denken, argumentieren (reden und schreiben) und Handeln mit einschließt. Das Prinzip der Wissenschaftlichkeit sollte in keinen Fall nur Wissenschaftlern oder Akademikern vorbehalten sein.
Wissen ist weder tote Materie noch ein Selbstläufer. Es braucht eine bewusste gesellschaftliche Anstrengung, Wissen wieder als Wert zu begreifen, Kompetenzen im Umgang mit Wissen zu fördern und die emotionalen und kulturellen Widerstände dagegen abzubauen. Wissenschaftlichkeit als Haltung und Methode ist dabei unser wichtigstes Werkzeug — nicht nur für die Wissenschaft, sondern für die Gesellschaft als Ganzes.
Foto: Barock-Bibliothek Klementinum, Prag @ wikimedia commons
Quellen und mehr zum Thema:
Dieser Blogpost wurde angeregt durch ein Interview mit dem Neurokognitions-Wissenschaftler Dr. Franz Hütter. Es ist in diesem Blogbpost zusammengefasst: https://anjatimmermann.de/blog/lasst-uns-wieder-denken-wagen
Inzwischen haben wir ein weiteres Interview zum Thema Wissenschaftliches Denken im Rahmen des Storytelling-Symposiums 2023 geführt, welches in meinem Youtube-Kanal zu sehen ist: https://youtu.be/gE1txQKPunA

