Was sind Narrative?

Palmbacher Märchenwelt: © Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Palmbacher_M%C3%A4rchenwelt_von_Hans_Fischer-Schuppach.jpg.

{Wie viele Märchen-Motive findest du? In diesem Wandbild, der “Palmbacher Märchenwelt” in der Palmbacher Waldenserschule haben Märchenforscher bisher mindestens 40 Motive der Grimm’schen Märchen entdeckt, dazu Pflanzen und Tiere der Umgebung, Palmbacher Gebäude und Schüler der Schule (das Wandbild ist von von Hans Fischer-Schuppach, zu sehen im Badischen Schulmuseum Karlsruhe)}.

 

Inhalt

  1. Was ist eine Narration?

  2. Narrative Eigenschaften (Narrativitätskriterien)

  3. Warum erzählen wir?

  4. Storytelling: eine Story “stricken”

  5. Narrative

  6. “Putins Narrative”

 

Was sind Narrative?

Eine Reise zum Mittelpunkt der Story und ein Exkurs zu Putins Narrativen

Bestimmt verfolgst du in diesen Tagen des Kriegs in der Ukraine die Nachrichten intensiver als sonst. Und sicher ist dir die Wendung “Putins Narrative” bei europäischen und “westlichen” Journalisten und Politikern in den Medien (dem Öffentlichen Diskurs) schon aufgefallen.

Hast du dich auch gefragt: Stimmt das eigentlich? Verwendet Putin Narrative? Was ist eigentlich ein Narrativ? Und warum wird beispielsweise die Aussage “Der Präsident der Ukraine ist ein Nazi” von den Kollegen Journalisten nicht einfach als Behauptung oder dreiste Lüge bezeichnet?

Warum verwenden sie den Begriff Narrativ?

Narrativ ist ein zentraler Begriff in meiner professionellen Ausbildung und täglichen Arbeit. Sowohl als Forschungsgegenstand in meinem Promotionsfach Geschichtswissenschaften, als auch in meinem zweiten Hauptfach, Publizistik- und Kommunikationswissenschaften. Und natürlich sind Narrative tägliche methodische Begrifflichkeit in Journalismus, Narrativem Coaching, Kommunikationstraining, Experten- und Wissensprojektberatung und Storytelling-Workshops. Man könnte sagen, eines meiner wichtigsten täglichen Arbeitswerkzeuge. Ich bin verbunden mit dem Begriff Narrative. Indoor und nach außen.

Dass dieser wissenschaftliche und journalistische Fachbegriff in der Kriegsberichterstattung und Kriegspropaganda jetzt so oft verwendet wird, betrachte ich einerseits als interessantes Phänomen, und andererseits ärgert mich auch etwas daran.

Was das Ärgernis ist, was überhaupt ein Narrativ ist (wie du es schnell erkennst), ob Putin zu recht zugeschrieben wird er verwende Narrative und wie du selbst Narrative verwenden kannst, das erfährst du in diesem Blogpost.

Das Besondere an dem Begriff Narrativ ist, dass er sich zwar einfach definieren lässt, aber in einer sehr komplexen, vielschichtigen Gemengelage wohnt.

Daher nähern wir uns systematisch. Fangen wir mit der “Mutter des Narrativs”, der Narration, an.

Was ist eine Narration?

Wirklichkeit, Vergangenheit und Erzählung.

Nehmen wir an, es gibt also so etwas wie die Wirklichkeit. Über Sinneswahrnehmungen kommen Reize in unserem Hirn an. Die verarbeiten wir und bilden uns so unser Abbild von der Wirklichkeit. Es gibt also einen Unterschied zwischen “der Wirklichkeit” und unserer Wahrnehmung von der Wirklichkeit. Die “innere Landkarte” sieht bei jedem anders aus, aber es gibt Übereinstimmungen. So wissen wir, dass mit großer Wahrscheinlichkeit Sonnenlicht wärmt. Das ist also eine relativ gesicherte Feststellung.

Wirklichkeit → Sinneswahrnehmung → Reizverarbeitung → Handlung und / oder Memorisierung

Nun ist es eine Errungenschaft des Homo Sapiens, dass wir unsere Eindrücke nicht nur direkt verarbeiten können, sondern auch unseren Mitmenschen vermitteln: kommunizieren. Auch das können einige Tiere bis zu einem gewissen Grad. Beispiel: Es droht Gefahr, da hinten gibt es Essen.

Aber mit dieser Fähigkeit unterscheiden wir uns signifikant von Tieren: Wir können Informationen über komplizierte Ereignisse und Handlungsabläufe über Raum und Zeit versetzt kommunizieren. Da geht es um Wissen und um Erzählungen. Eines der frühesten Zeugnisse sind die Höhlenmalereien: Jemand chiffriert eine Sinneswahrnehmung in Symbole, zum Beispiel als Sprache (Bild, …) und das nehmen wir dann wahr, wenn wir die “verkapselte” Wirklichkeit wieder dekodieren.

So können wir etwas über die Vergangenheit erfahren. Ob die Zeitpunkte der Kodierung und Dekodierung nun weit auseinanderliegen, wie bei einer Höhlenmalerei — oder nah beieinanderliegen, wie bei der Kommentatorstimme zu einem Fußballspiel. Der Kommentator wird im Spanischen der “Narrador” genannt.

Wirklichkeit → Sinneswahrnehmung → Kodierung → Medium → Dekodierung → Reizverarbeitung → Handlung und/oder Memorisierung

Darum ist das wichtig: Eine Erzählung oder abstrakte Darstellung jeglicher Art ist nicht mit der Wirklichkeit in der Vergangenheit gleichzusetzen, sondern ist immer eine Interpretation aus der Zeit und der Perspektive des Erzählers. Das kann unbewusst geschehen — etwa wenn dein Kind dir abends die Erlebnisse aus dem Kindergarten erzählt, und dabei vielleicht darauf achtet, dass es als besonders fleißig, kreativ oder gutmütig dasteht. Oder bewusst, etwa wenn Fernsehjournalisten eine reine Nachricht für die Kindernachrichten aufbereiten, damit die Kinder ihr besser folgen und sie besser verstehen können. Um den Unterschied herauszufinden, da fängt die Detektivarbeit oft schon an.

Die Erzählung ist nicht die Wirklichkeit. Vergangenheit ist vergangene Wirklichkeit.

Nun haben wir die Voraussetzung oder auch Prämisse für die Definition.

Eine Narration ist eine Erzählung (von dem lateinischen Wort narratio) oder auch Geschichte, im Sinne einer Wiedergabe von Ereignissen, Handlungen und Sinneswahrnehmungen, aber sie ist nicht die Vergangenheit an sich.

Nun haben sich natürlich schon Wissenschaftler damit beschäftigt. Und zwar Ethnologen (vor allem mit Ritualen und mündlichen Erzählungen), Archäologen (vor allem mit Artefakten, also Gegenständen), Geisteswissenschaftler und Literaturwissenschaftler (vor allem mit geschriebenen Texten) und auch Psychologen, die Psychotherapie und die Hirnforschung (vor allem mit Verhalten).

Nähern wir uns dem Forschungsgegenstand: wie begegnen uns Erzählungen? Durch mündliche Wiedergabe und in Medien. Also: Grundsätzlich haben wir es mit Texten zu tun.

Erzählungen sind Texte. Aber nicht jeder Text ist eine Erzählung.

Denn:

Eine Narration ist ein Text, der in einer bestimmten Form aufbereitet. Halt, aber was ist denn mit den mündlichen Überlieferungen, Theater und und und?

Mit Text meine ich hier einen Inhalt im weitesten Sinne. Man könnte auch sagen: eine Menge von "Zeichen", die inhaltlich zusammenhängen.

Ein Text im weiteren Sinne:

  • ein Lied

  • ein Bild

  • ein Film

  • ein Gedicht

  • eine mündliche Erzählung

  • ein gedruckter Text

  • eine Serie von Bildern, zum Beispiel eine Höhlenmalerei

  • eine Kombination, wie im Comic oder eine Kunst-Installation

Das ist ja sehr umfangreich.

Gibt es Texte, die keine Narration sind?

Ja:

  • die Wetterkarte

  • ein Kochrezept

  • eine Chronik

  • eine Tabelle

  • eine Liste

  • eine Randnotiz

  • ein Brief

Merkst du schon einen Unterschied? Eine Narration würde nicht so gut in ein tabellarisches Dokument in einem Aktenordner passen.

Bei einer Prozessbeschreibung, einem bestimmten Teil eines Briefes, einer Metapher, einem Kinderlied oder einem Witz wird es schon schwieriger zu unterscheiden.

Du wirst die Unterschiede gleich noch klarer erkennen, wenn wir die Eigenschaften anschauen, die typisch für eine Narration sind.

Narrative Eigenschaften (Narrativitätskriterien)

Meist hilft uns diese reine Unterscheidung zwischen Narration und Nicht-Narration aber nicht viel weiter, denn wir sind in Grauzonen unterwegs. Sonst wären die Kollegen Journalisten und Damen und Herren Politiker ja auch nicht so stolz darauf, ein Narrativ erkannt zu haben.

Da helfen uns die Narrativitätskriterien.

Typische Eigenschaften einer Narration sind:

  • Ein Problem: Die Erzählung rankt sich um ein Problem. Im Kern steht ein Problem und die Erzählung ist die Nacherzählung einer Abfolge von Ereignissen und Handlungen, die zur Lösung des Problems führen. Das heißt schon mal: eine Wetterkarte ist keine Narration.

  • Anfang und Ende: One Moment in Time. Meist handelt es sich um einen Ausschnitt in der Zeit, Anfang und Ende sind klar festgelegt. Wie etwa typischerweise in Märchen sogar formelhaft verstärkt: "Es war einmal, .... bis ans Ende ihrer Tage".

  • Ein Plot: die wichtigsten Elemente der Handlung. Sie lassen sich in einer kurzen Grundstruktur aufzählen:

  • Eine innere Struktur: Typische Erzählungen folgen althergebrachten Mustern. Sehr typisch sind die schon von Aristoteles herauskristallisierten 3 Teile: Anfang, Mitte (oder Handlung) und Ende. Ich verwende 5 Teile in meinen Storytelling-Workshops (STARt: Situation, Task, Action, Result, Transfer), die Heldenreise von Joseph Campbell hat 17 und ausgefeilte Dramaturgien im Film- und Fiction-Genre 32 oder mehr.

  • Typische Rollenfiguren: Heldin oder Held, der/die/das Böse, Opfer und Storyteller sind die wichtigsten Rollen, und in den meisten Erzählungen enthalten. Sie symbolisieren Persönlichkeitsanteile.

  • Kulturelle DNA: Wenn Formulierungen (und sogar rethorische Figuren) bewusst die Nähe zu vorhandenen Sprachbildern oder Erzählungen, oder auch bekannten Mustern suchen, dann ist es sehr offensichtlich, dass das zur bewussten Verstärkung des Gesagten verwendet wird. Denken wir an die Filme der nationalsozialistischen antisemitischen Propaganda, die bewusst Bilder von Ratten (mit entsprechender musikalischer Verstärkung) unter die Erwähnung von Juden gelegt hat, und das anti-asiatische Schlagwort von der "gelben Gefahr".

  • Kommunikationsabsicht: Das Format der Narration wird dann bewusst gewählt, wenn die Absicht des Kommunikationsaktes in punkto Ganzheitlichkeit, Aktivierung und Nachhaltigkeit über die reine Informationsvermittlung (und auch Unterhaltungswert) hinausgeht: Es soll neben dem reinen Inhalt auch Sinnbildende Elemente wie Werte und Moralvorstellungen vermittelt werden. Emotionen und Spannung, der Unterhaltungswert, wird dann bewusst eingesetzt.

  • Last but not least: der Unterhaltungswert. Bei einigen Narrationen möglicherweise der Hauptgrund, warum sie erzählt werden. In jedem Fall werden Mittel der Verstärkung der Botschaft verwendet: Emotionen, Sprachbilder und Spannungsfördernde Elemente wie ein Cliffhanger (typisch im Krimi) oder ein Moment der Überraschung. Auch bewusst gewählte Identifikationsfiguren und Szenarien, die zur Ziegruppe passen, sind Wirkungsverstärkende Mittel.

Ich hoffe, du siehst, wie wichtig es ist, die Merkmale einer Narration zu kennen: Denn so kannst du den Grad der "Narrativität" einer Nachricht bestimmen. Eine Chronik oder Dokumentation sollte demnach einen geringen Grad an Narrativität enthalten (und diesen im besten Fall auch kenntlich machen). Im Journalismus heißt ja Vieles Story. Da ist der Grad der Narrativität ein gutes Unterscheidungsmerkmal.

Der Narravititätsgrad: Dein neues Story-Messgerät

Toll, oder? Jetzt kannst du selbst bestimmen, ob es sich um eine Story handelt. Und noch besser: du kannst auch besser auswählen, was sich für eine Erzählung eignet.

Warum erzählen wir?

Oft erzählen wir, anstatt einen Aktenordner mit wohlgeordneten Informationen rüberzuschieben,

  • weil es unsere natürliche Sprache ist: wenn wir unserem Sprechen freien Lauf lassen, dann kommen wir natürlicherweise in einen Erzählstil.

  • weil das Format einer Erzählstruktur und Wirksamkeitselemente die natürliche Form sind, in der wir Informationen am besten abspeichern können. Somit hören, sehen oder lesen wir am liebsten Stories (vor Aktenordnern), und verbrauchen auch am wenigsten Energie bei der Aufnahme.

  • weil Stories länger in Erinnerung bleiben als Tabelleninhalte.

  • weil Informationen in dieser Form am besten weitererzählt werden können (und ein starker Plot sich dabei wenig verändert).

  • weil die Form einer Narration ein “ganzheitliches Paket” ist, inklusive Sinnbildung, Gemeinschaftsbildung, Werte, Moralvorstellungen, Handlungsaktivierung.

Wenn es nicht so martialisch und aktuell brisant wäre, würde ich sagen: die Narration ist die ABC-Waffe unter den Textformaten. Also nehmen wir lieber die Metapher der Magie: eine Narration kann eine Wirkung entfalten, die viel größer als das Erwartbare ist.

Die Erzählung oder Narration: Energieverbrauch: niedrig. Aufmerksamkeit: hoch. Wirksamkeit: ein Vielfaches.

Storytelling: eine Story “stricken”

StoryMaking, wie geht das? Wie “stricken” Politiker, Marketingagenturen und Fernsehjournalistin eine Story?

Wir fangen mit dem an was wir haben. Wollen wir eine bestimmte Wirkung entfalten, suchen wir die Story zur Zielgruppe und der gewünschten Problemlösung. So funktioniert Storytelling im Marketing.

Aber gehen wir zurück in die Redaktion der Fernsehjournalisten:

Erst haben wir meist das Rohmaterial, gern auch "Fakten" genannt, aber dieser Begriff wirkt nur klar, ist es jedoch nicht. Sagen wir richtiger: Informationen über Ereignisse und Handlungen zu einem relevanten Problemfeld. Nun können wir uns entweder bemühen, alles so klar wie möglich und logisch sortiert (zum Beispiel vom Wichtigen zum Unwichtigen) darzustellen, dann haben wir die Nachricht.

Oder wir wählen ein erzählerischeres, ein narratives Format, zum Beispiel für die Kindernachrichten “Logo”. Genauso können wir das aber auch für eine Doku oder einen “Hintergrundbericht” tun. Und sogar in übler Absicht —

Storytelling an sich ist ja nur eine Kommunikationsform und nicht per se gut oder böse.

Den Grad der Narrativität können wir beeinflussen, ohne die enthaltenen Informationen zu verfremden:

  • die Erzählzeit: wir geben die Informationen in einer anderen Reihenfolge wieder, oder ändern auf eine andere Art den Bezug zum zeitlichen Rahmen

  • die Perspektive (lassen wir die Geschehnisse aus der Perspektive einer Einzelperson, zum Beispiel eines Kindes erzählen)

  • die Visualisierung und Kontextualisierung (in welchen Rahmen setzen wir die Informationen?)

So geht die Verwandlung von Informationen in ein Erzählformat. Das allein ist nicht per se gut oder böse. Es ist sogar auch die Pflicht von qualitativem Journalismus, Verhältnisse so darzustellen, dass sie gut verstanden werden. Und Geschehnisse einzuordnen und zu interpretieren. “Uns die Welt zu erklären”.

Vorteile:

  • wir legen Sinn hinein

  • wir ordnen die Geschehnisse in einer logischeren Reihenfolge

  • wir bringen Spannung hinein

  • durch Emotionen oder Sprachbilder machen wir eine reine "Faktenübermittlung" interessanter, sie wird auch besser behalten (wer erinnert sich noch an Karius und Baktus?)

  • die Story kann eine Lehre transportieren

Übrigens, good to know:

Die Narration ist der Vorgang des Erzählens, aber auch das Ergebnis, der Text, der durch Weitererzählen konserviert und weiter verändert wird. Oder in einem Medium gespeichert Raum und Zeit überdauert (zum Beispiel als Buch oder Fernsehbericht).

Die englischen Begriffe machen den Unterschied deutlicher: Der Vorgang ist das Storytelling, das Produkt die Story.

Eine Erzählung hat also einen dynamischen und einen statischen Zustand. Dann ist sie abgeschlossen.

Inhalte können also nicht nur als Story und anderweitiges Format, sondern auch mehr oder weniger narrativ vermittelt werden.

So, alles geklärt. Dann jetzt endlich zu den Narrativen — und zu der Frage, warum der Begriff Narrativ im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine gerade so sehr durch die Medien getrieben wird.

Was ist ein Narrativ?

Narrativ bezeichnet in der Anthropolgie und Erzähltheorie (Narratologie) ein Versatzstück einer Erzählung. Und zwar (und hier wird es interessant für uns) ein Teil, der die Essenz der Narration enthält und in sehr verdichteter Form wiedergeben kann. Ähnlich wie eine Metapher, ein Sprachbild, ein Plot. In einer umfangreicheren Erzählung gibt es oft mehrere Narrative (denk mal an einen Krimi, oder generell Serien), aber ein Haupt-Narrativ.

Das Skelett, der Geist oder der Rote Faden einer Geschichte. Findest du noch mehr Sprachbilder für Narrativ?

Das Narrativ ist einerseits kleiner und andererseits viel größer als die Narration.

Kleiner, weil es die Essenz der Geschichte ist, und daher schnell gesagt:

  • Die Prinzessin muss sich vom Frosch befreien (äußeres Problem), dabei steht sie für sich ein, so kann sie die Kindheit hinter sich lassen, sich zur erwachsenen Frau entwicklen und lernen, Verantwortung zu übernehmen. Nun erst kann sie heiraten und Königin werden.

  • Der Prinz muss erst seinen Mut beweisen (indem er die Dornenhecke durchschlägt), bevor er die Prinzessin heiraten darf.

  • Die tugendhafte Tochter wird mit Gold überschüttet und kann für ein besseres Leben ihrer Familie sorge, die faule wird mit Pech überschüttet. Gerade die Brüder Grimm haben Moralvorstellungen in Märchen hineingestrickt.

  • Die Ukraine muss entnazifiziert und demilitarisiert werden, damit (der Protagonist zu einer besseren Version seiner selbst werden kann aka als stark anerkannt) Russland wieder sicher ist , das Gleichgewicht der Mächte in der Welt wieder hergestellt, und der Frieden einkehren kann.

Tipp: Du findest diese One-Liner in den Zusammenfassungen von Film-Plots bei IMDB.com.

Merke: Es geht immer um eine äußere Zustandsveränderung zu einem erwünschten Zustand in der Zukunft — und parallel auch um eine innere Transformation der Heldin / des Helden zu einer besseren Version ihrer / seiner selbst. Bessere Welt, besserer Mensch. Aus {obacht hier!} der Perspektive des Erzählers. Aber, wie eingangs gesagt: niemand hat die Wahrheit für sich gepachtet.

Narrative sind viel größer als die in sich abgeschlossene Narration, weil sie sich wiederholen und vielen Narrationen zugrundeliegen. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch unterschiedlichste Texte, über viele Jahrhunderte, und "nähren" sich durch Beiträge, die aus ganz anderen Kontexten kommen können. Sie bekommen ein Eigenleben und können so mächtig werden, dass eine Andeutung reicht, um das Bild heraufzubeschwören. Da wird die Nähe zum Mythos (hier dem Mythos von der tugendhaften Hausfrau und Mutter) deutlich.

Ein Narrativ ist so etwas wie der Rote Faden einer Geschichte, ein Thema, eine Story in der Nussschale: Vom Tellerwäscher zum Millionär.

Narrative transportieren Inhalte, aber auch Subtexte (zum Beispiel Werte und moralische Vorstellungen) und deren Funktion es ist, Erlebtes in bekannte Kategorien zu bringen.

Und nun kommen die wichtigen Punkte aus den Narrativitätskriterien. Hast du aufgepasst?

Ist Putins Behauptung nun überhaupt ein Narrativ?

Überleg mal selbst:

  • Ein drängendes Problem steht im Kern.

  • Ein Plot: unakzeptable Jetzt-Situation, etwas muss geschehen (was Mut und Überwindung kostet), damit ein besserer Zustand erreicht werden kann. Es gibt das Böse, das bekämpft werden muss.

  • Alte, tiefsitzende emotionale und kulturelle Muster und Begriffe werden genutzt: Entnazifizierung. Da braucht man nicht viele Worte, um ein ganzes Szenario samt Gefühgswelt und Handlungsaktivierung heraufzubeschwören.

Dies ist ein klassisches Narrativ. Es ist sehr viel mächtiger als eine Narration. Häufig wiederholt entfacht es seine Wirkung über Dekaden hinweg. Hier ein Hinweis, dort ein Bild, Ein Akt, eine Andeutung: jedes Mal ein Scheit ins dämonische Feuer, welches längst sein Eigenlegen entfacht hat.

Ja, das ist ein Narrativ. Aber der Grund, warum ein Fachbegriff, von dem mir seit Jahrzehnten gesagt wird, ich solle ihn im Marketing nicht verwenden, denn er sei zu “trocken”, jetzt anscheinend modern wird.

Du kommst selbst drauf, wenn du die Formulierungen der westlichen Journalisten mit den kriegstreiberischen Reden der russischen Propaganda vergleichst: Hier “Putins Narrative” — dort “westliche Blockbuster”. Hier wird ein Begriff genutzt, um dem jeweils anderen Lügen mit einer manipulatorischen Absicht zu unterstellen. Etwa wie wenn die Mama sagt: Erzähl keine Geschichten, oder: Mach kein Drama draus. Und wir wundern uns dann später, warum wir bei dem Begriff zusammenzucken.

Fazit

Jetzt weißt du, wie du ein Narrativ erkennst (an den Narrativitätskriterien) und warum es safe und ok, sogar bitte bitte unbedingter Imperativ ist, selbst Narrationen, Storytelling und Narrative zu benutzen. Denn der Wille zur Macht ist weder gut noch böse. Storytelling und Narrative sind weder gut noch böse. Es sind Mittel zur Macht. Denn ein Storyteller ist ein {oh je, böses böses kulturell verbranntes Wort, auch hier} Führer, ein guter Guide, ein Coach, ein Anführer, ein Leader. Und wir brauchen die guten Storyteller. Wir brauchen dich.

Erzähle Stories, nutze Narrative, wenn du Wirkung erzeugen willst. Und decke die Narrative der Feinde auf, vor allem wenn sie auf Lügen basieren oder Martialische Absichten dahinterstecken. Die Absicht macht den Unterschied.

 

Quellen und Literaturhinweise

{Wird fortlaufend ergänzt}.

David Drake: Narrative Coaching.

Christopher Booker: Seven basic Plots.

Heinz Gollwitzer (1962): Die Gelbe Gefahr — Geschichte eines Schlagwortes.

Frank Billé und Sören Urbansky (Eds.): Yellow Perrils. China Narratives in the Contemporary World.

Olivia de Fontana und Sabine Pelzmann: Führung und Macht. Aspekte moderner Führungsrollen — gesehen in den Figuren der Grimm’schen Märchen.

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