Der Fluch des Wissens — Warum es Expert:innen so schwer fällt, ihr Expertise einfach zu erklären
Dieselbe Zeitung. Was aber lesen zwei verschiedene Personen? Foto: bennet-tobias@unsplash
Experten sind schlechtere Kommunikatoren ihres Wissens als Nicht-Experten.
Experten haben es in ihrem Fachbereich und vor allem darüber hinaus oft viel schwerer in der Kommunikation als Laien. Sie gehen direkt ins Eingemachte, sie ignorieren den Kontext, sie reden über die Köpfe hinweg und am Interesse vorbei.
Miro Kazakoff, Senior Lecturer in Management-Kommunikation an der MIT Sloan School, nannte das in einem Seminar 2022 den „Fluch des Wissens" (“The curse of knowledge — Why smart professionals struggle to explain their work“). Er sagt: Es strengt Experten über Gebühr an, wenn sie Nicht-Experten, die nicht dasselbe Niveau an Vorwissen haben, ihre Arbeit erklären müssen.
Diese Fähigkeit ist aber zunehmend relevant für die Distribution und Integration von Wissen in Entscheidungsprozessen von Führungskräften, und auch zwischen verschiedenen Sphären in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft.
Bevor wir über Lösungsmöglichkeiten nachdenken, müssen wir zuerst den Prozess des Verstehens verstehen.
Wie „funktioniert“ Kommunikation?
Schauen wir uns den Prozess der Kommunikation mal in einem super-vereinfachten Modell an:
1. Informationseinheiten werden verschlüsselt, das bezeichnet man mit dem recht technischen Begriff: kodiert. Etwa wie der Telegrafist bei einer transatlantischen Telegrafenleitung Morsezeichen eintippt: kurz, kurz, lang und so weiter. Dabei fällt das Kodieren dem Gehirn leichter über ein Bild, eine Narration (also der Prozesse, wenn der Telegrafist eintippt), und wenn ein bekannter Begriff enthalten ist, der allgemein ähnlich verstanden wird, und an den angeknüpft werden kann.
2. Die Informationseinheit wird übermittelt, persönlich oder über ein Medium (hier die Telegrafenleitung).
3. Die Decodierung. Jemand hört die Nachricht ab. Hier gelten wieder dieselben Prinzipien wie bei 1.
Dies ist wohlgemerkt ein sehr mechanisches Kommunikationsmodell. Es muss hinzugefügt werden, dass Kommunikation abgesehen von der über Telegrafen erstens von vielen nonverbalen Faktoren und Kontexten begleitet wird, und dass 2. Kommunikation (zunehmend auch medial) zirkulär abläuft, also in Schleifen der gegenseitigen Beeinflussung. Und sogar eine sprachliche Nachricht kann mehrere Ebenen und Varianten haben und unterschiedlich aufgefasst werden.
Um zu entscheiden, was in die Nachricht kommt, müssen wir eine Annahme haben, wie die Nachricht aufgefasst wird.
Jeder Mensch nimmt eine Information von außen anders wahr und interpretiert sie anders. Experten haben in ihrem Thema eine sehr spezielle, über Jahrzehnte geschulte Wahrnehmung. Eine der großen Herausforderungen für Experten ist, die Variablität der Möglichkeiten, wie die von ihnen übermittelte Information dekodiert wird, zu überblicken und zu kontrollieren: Wird mein Gegenüber das genau so verstehen, wie ich es meine? Wohl kaum. Jedenfalls scheint es unmöglich, vorauszusehen, wie die Nachricht aufgefasst wird.
Denn: Wenn wir etwas einmal gesehen haben, ist es fast unmöglich, uns vorzustellen, wie war, bevor wir das kannten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn du kein Auto kennen würdest. Wir können es nicht un-wissen. Experten fällt es unglaublich schwer, eine Sache, die sie so gut kennen, zu ent-wissen. Also sich hineinzuversetzen in jemanden, der nicht dasselbe Wissen hat. Das ist aber genau die Aufgabe.
Und das ist genau die Taktik, die Fachjournalisten anwenden. Sie haben zwar nicht dasselbe Wissen wie die Experten, die sie interviewen. Aber auch sie haben im Laufe ihrer Berufslaufbahn schon viel gehört und gelesen, und oft ein immenses Vorwissen. Trotzdem gehen sie an jeden neuen Artikel mit dem staunenden Ohr und Auge der unwissenden Leser heran. Sie verstehen sich als deren Interessenvertretung. Deshalb scheuen sie sich nicht, naive Fragen zu stellen. Und sie fügen ihren Artikeln vereinfachte Grafiken oder Bilder hinzu. Denn sie verstehen sich als Übersetzer für die Leser.
Wie können wir das ändern?
Eine extrem wirkungsvolle Taktik für das Überwinden der Kodierungs-Dekodierungs-Hürde:
Denke wie eine Journalistin oder ein Journalist: Denke bei den Überschriften an Zeitungsüberschriften, nicht Labels aus dem Zettelkatalog der Bibliothek. Wenn du meinst, dass sie dennoch nötig sind, verweise ihnen einen Platz auf dem zweiten Rang. Das hilft, von Anfang an die wichtigste Idee herauszukristallisieren.
Letztlich kann die Schwierigkeit, die eigenen Expertise einem Laien zu beschreiben, auch als Indikator dafür gewertet werden, dass der Experte es vermieden hat, sich die Mühe, die Relevanz des Themas und seiner Unteraspekte herauszukristallisieren und Entscheidungen zu treffen, schon früher zu machen.
Die eigene Expertise zu lehren und sich als Übersetzer zu verstehen, wird in letzter Konsequenz die Expertise besser machen und die Kommunikation nach außen leichter von der Hand gehen lassen. Die Mühe, die du in die Formulierung einer guten Überschrift steckst, wird sich auszahlen. Sie hilft nicht nur, fokussierter und damit effektiver zu arbeiten, weil nun die Kernthese klar entschieden ist. Sie hilft auch, irreführende Fragen von vornherein zu vermeiden. Und sie wird möglicherweise sogar mehr Anfragen für weitere Vorträge oder Workshops bringen.
Fazit: Wer in der Lage ist, Abstand zu nehmen und die Welt mit anderen Augen zu sehen, dem fällt es leichter.
Grundvorausssetzung aber ist eine gewisse dienende Haltung. Die meisten Experten aber haben diese nicht - zumindest nicht einem Laienpublikum, also der Gesellschaft gegenüber. Wenn, dann schon eher einer höheren Autorität gegenüber, etwa ihrem Arbeitgeber, einem Unternehmen oder einer Universität, gegenüber. Das ist einer einfachen Erklärungsweise von vornherein schädlich, da die Sorge im Raum steht, als Expert:in abgewertet zu werden. Von dieser Haltung muss man sich ein Stück weit lösen. Die Institutionen sollten das unterstützen.
Quellen nachvollziehen oder Wissen vertiefen und erweitern:
Veritasium: What Everyone Gets Wrong About AI and Learning – Derek Muller from the Perimeter Institute for Theoretical Physics explains: https://www.youtube.com/watch?v=0xS68sl2D70