Alejandra Espinosa: wie die Idee einer Buchhandlung auf dem Dorf sie auf die Leinwände weltweit brachte
Alejandra Espinosa war der Hauptstadt überdrüssig und zog, um ihrer Leidenschaft für die Kultur der Region Santander zu folgen, aufs Land, in die Kleinstadt Barichara — eine der schönsten Kolumbiens. Kaum dort, wurde sie erst kulturelle Beraterin für den Disney’s Film Encanto und dann die Inspiration für die Hauptfigur, Mirabel Madrigal. Über die kulturelle Identität eines Landes, eine mutige Frau und ihren Einsatz für die kolumbianische Kultur in einem ungewöhnlichen Disney-Film um das tiefgehende Thema Transgenerationaler Weitergaben in Familien.
Ein Ort wie eine Filmkulisse
Barichara ist nicht irgendeine Kleinstadt — die schönste in ganz Kolumbien, sagt man. Sie liegt 7 Stunden von der Hauptstadt Bogotá entfernt in der Gegend Santander {ich war dort noch nicht, aber erinnere mich, dass uns meine Schwägerin und Architektin Catalina mal von dort eine Tüte geröstete schwarze Ameisen nach Bogotá mitgebracht hat, die gar nicht so übel geschmeckt haben}. Barichara also ist der Geburtsort der Story von Encanto.
2016 fiel Alejandra in Bogotá die Decke auf den Kopf. Sie hatte ihr Literaturstudium beendet und wollte lieber schreiben und mit Aquarellfarben malen.
Ein Jahr nach einer Reise nach Barichara, 2017, hatte Alejandra jeden Winkel des Dorfes mit Wasserfarben auf Postkarten gebannt und verkaufte diese an Touristen für ein paar pesos. Die Tochter einer Historikerin (Diana Uribe von der Universidad de los Andes in Bogotá) entschied sich, tiefer in die Traditionen des Dorfes und der Umgebung einzutauchen.
Sie legte ihre Schüchternheit ab und blühte förmlich auf {wer den Film gesehen hat, hat jetzt bestimmt das Bild der Schwester der Hauptfigur vor Augen}. Bald war sie die respektierteste Kulturführerin in der ganzen Gegend.
Als ein Anruf 2017 ihr Leben nochmal komplett veränderte.
Ein Team von Filmautoren, die für die Walt Disney Company wollten eine 4-tägige Tour durch die Gegend zur Vorbereitung für einen Disney-Film buchen.
Sie versuchte, ihre Aufregung zu verstecken und versprach, alles geheim zu halten. Als die Männer ankamen, waren sie es, die wie vom Blitz getroffen waren. Von der Schönheit des Ortes und von der Leidenschaft dieser jungen Frau dafür.
Sie nahm sie mit in die Küchen der Dorfbewohner, zu den Arbeitern in den Steinbrüchen und zu den Näherinnen der wunderschönen Stoffe, die jetzt als Repliken “Made in China” weltweit in Touristenläden hängen.
Aber sie nahm auch all ihren Mut zusammen und warnte die schockverliebten Filmemacher:
Wahrt die Identität dieser Orte und der Menschen. “Bedient nicht das Stigma, das Kolumbien im Ausland hat. Und die Menschen hier sind sehr anfällig dafür, Rollenvorbilder aus dem Ausland zu übernehmen. Tragt nicht dazu bei. Sie müssen ihre eigene Identität finden.” Bei allem was Alejandra sagte, rückte sie immer die Identität Kolumbiens ins Zentrum.
Und sie ging noch weiter und sagte in etwa: Kommt nicht auf die Idee, eine Blondie-Prinzessin in einer Fabelwelt in einer tropischen Landschaft zu inszenieren und das für den Magischen Realismus zu halten, den die Welt durch Gabriel García Márquez zu kennen meint.
Sie sagte ihnen sogar auch, dass das Wunder des Lebens entsprechend der Religion der indigenen Bevölkerung aus einem Fluss kommen muss — und das die Großvaterfigur der Vorlage durch eine Frau ersetzt werden muss.
Sie dachte, “Talk to you soon” wäre einfach eine nette Gringo-Art, Goodbye zu sagen.
Einen Monat später traf ein Brief in Barichara ein — mit einem Vertrag für Alejandra als kulturelle Beraterin für den Film Encanto für vier Jahre.
Sie zögerte, weil sie sich unsicher war, ob sie ihnen ihr dringenstes Anliegen vermitteln konnte:
“Es muss ein Film für die Kolumbianer werden. Mirabels Suche muss die Suche nach unserer eigenen Suche nach Selbst-Bewusstsein und Selbstakzeptanz werden.”
Was sie dort erlebte aber war ein Team von 10 lateinamerikanischen Mitarbeitern, die co-kreativ zusammenarbeiteten — und sehr rezeptive Direktoren, die nicht nur ihre Vorschläge einarbeiteten, sondern sich von ihr auch als Modell für die Hauptfigur, Mirabel Madrigal, inspirieren ließen. Mehr kolumbianische Berater:innen wurden kontraktiert und von Disney später “The Colombian Cultural Trust” genannt.
Der Film
Wann spielt der Film eigentlich? Das wird nicht so richtig deutlich, daher habe ich nachgeschaut: Historischer Hintergrund ist der Krieg der Tausend Tage, Guerra de los Mil Días (1899-1902), ein Bürgerkrieg in der damaligen Republik Kolumbien, bei dem tausende Familien ihr Zuhause verlassen und flüchten mussten.
Die Idee der Vorlage basiert auf einer Großfamilie im Zentrum, eine Metapher für die vielfältige Bevölkerung Kolumbiens, mit afro-amerikanischen Anteilen (in den Charakteren von Antonio, Dolores und Félix), der indigenen Bevölkerung in Mirabel’s Onkel Bruno, der für eine Zeit verschwunden ist, aber im Hintergrund alles zusammenhält und am Ende integriert wird.
Auch wenn in meinem deutschen Umfeld vor Allem der kitschige “US-Amerikanische” Disney-Musical-Stil geäußert wurde, bzw. der Film gar nicht erst gesehen wurde: Kritiker haben diesen Film gelobt für seine Emotionalität, starken Charaktere und die kulturelle Signifikanz. Zu recht gewann der Film einen Oskar.
Der innere Gegenstand des 2021 ausgespielten Films aber ist die Überwindung eines transgenerationalen Traumas. Der Autor, Jared Bush, sagte in Disneys D23 Magazin, der Kern der Geschichte sei die Beziehung zwischen Mirabel und ihrer Großmutter Alma. Und es sei auch ein Film darüber, wie du die Mitglieder deiner Familie siehst und wie sie dich sehen.
“Die Reise der Großmutter ist die des Erkennens ihres eigenen Traumas und des Loslassens desselben,” sagt Alejandra in einem Interview mit El País.
“The grandmother’s journey is that of recognizing her own trauma and letting it go. We are a traumatized society that is still moving forward. Sometimes it is necessary to stop, think and accept the trauma in order to let it go” — Alejandra Espinosa in El País.
Der Buchladen
Noch während ihrer Arbeit für Disney, 2019, machte Alejandra ihren Traum wahr und eröffnete einen Buchladen in Barichara.
Damit wurde sie die erste Buchhändlerin der Stadt, als noch niemand von ihrem geheimen Einsatz für die Disney Studios wusste.
Ihren Fußabdruck hat sie jedenfalls in dem Film hinterlassen. Sie hat sogar dafür gesorgt, dass das in Disney-Filmen allgegenwärtige Schloss gegen ein bescheidenes, typisch kolumbianisches Wohnhaus mit Patio ausgetauscht wird, wie es fast auch in 100 Jahre Einsamkeit stehen könnte. Mit Türen, die immer offen sind.
Warum erzähle ich dir das?
Die Geschichte hat so viel mit meiner eigenen Geschichte zu tun — ich musste ihr einfach nachgehen, als mein Mann mir von dem Kleinen Buchladen erzählte. Kolumbien ist das Land meiner Träume seit ich 100 Jahre Einsamkeit gelesen habe, und jetzt bin ich Teil einer kolumbianischen Familie. Wir waren zwar nicht in Barichara, aber in vielen anderen, ähnlichen Orten wie Villa de Leyva, Zipaquirá und Cajicá. Es war immer mein Traum, einmal als Historikerin für einen Film die Recherchen zu machen. Diana Uribe, Alejandras Mutter und Historikerin an der Universidad de los Andes in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá. Transgenerationale Weitergaben sind ein so wichtiges Thema für unsere Generation der Kriegsenkel. Es ist das Forschungsthema meiner Mutter, Helene Timmermann.
Aber das Wichtigste:
Eine Geschichte darüber, was dir passieren kann, wenn du deinem Herzensthema folgst. Auch wenn es sich erst einmal nach weniger anfühlt und du viel loslassen musst. Es könnte sein, dass du eine neue Welt eroberst, die vielleicht viel mehr deine eigene ist, in der du aufblühst, mehr respektiert wirst, mehr Impact hast — und vielleicht sogar Unglaubliches passiert.
Update vom 20. August 2022: Alejandra hat sich gemeldet und “si” zu einem Interview gesagt. Momentan übersetze ich den Text ins Englische für die Vorbereitung. Folge meinem Academy Letter um zu erfahren, wie es ist, für die Disney Animation Studios als Beraterin zu arbeiten, was seitdem passiert ist und wie ihr Leben jetzt aussieht.
Quellen:
Alejandras Buchladen in Barichara heißt Aljibe, die Seite gibt es nur auf Spanisch: aljibelibreria.com .
https://elpais.com/cultura/2022-01-23/la-historia-real-detras-de-la-fantasia-de-encanto.html
https://www.infobae.com/america/colombia/2022/04/19/esta-es-aljibe-la-unica-libreria-de-barichara/